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Hindernisfreiheit im Busverkehr

Die Bustechnik hat sich in den letzten 30 Jahren rasant entwickelt – so schnell, dass viele gar nicht mitgekommen sind. Für Gemeinden, Busbetreiber, Behörden und Planer ist oft nicht klar, was wie gemacht werden soll, damit der öffentliche Busverkehr als behindertengerecht gilt.

1. Ein aktuelles Thema

Wir haben dazu ein Procap Magazin 1/2018 gewidmet, welches die Probleme für die Betroffenen aufzeigt.

Um technisch und juristisch zu verstehen was verlangt ist und wie den Herausforderungen zu begegnen ist, muss man die Entstehungsgeschichte zu kennen.

2. Zur Entwicklung des niveaugleichen Einstiegs im ÖV

Ab 1970 wurde mit der Entwicklung der Niederflur-Busse im Ausland begonnen. Die Niederflurbusse hatten im Wesentlichen das Ziel, gegenüber den damals gängigen Starrachs-Hochflur-Bussen, den Zutritt von zwei oder drei Stufen auf eine Stufe zu reduzieren. Die Motivation dieser Entwicklung war insbesondere die Verkürzung der Ein- und Ausstiegszeiten für den Fahrbetrieb, angelehnt an den Erfahrungen mit niveaugleichen Konzepten bei Metro`s, welche sich in den Grossstädten bewähren. Während bei den Haltestellen der Hochflur-Busse der Fokus auf die Reduktion der ersten Steigung auf normale Tritthöhe lag (Kantenhöhe Haltestelle 12 cm), benötigten Niederflurbusse ein anderes System für einen passenden Einstieg, sowohl in der Höhe als auch in der Ausbildung, die ein nahes Anfahren an den Randstein erlaubt. Dies führte ab 1990 zu der Entwicklung verschiedener Sonderborde, die sich durch eine Spurführung auszeichnen, einer Ausrundung für die Räder, die einerseits die Beschädigung als auch das Hochklettern der Pneus bei Anfahrt und die Kollision des Chassis mit dem Stein verhindern. Dies ergibt ein ca. 30 cm hohes Bord, welches sich gleichzeitig als gute Zustiegshöhe für Niederflur-Trams erwiesen hat. Da die 30 cm solcher Kombihaltestellen [1] gegenüber den Trottoirhöhen von 6-8 cm eine grosse Steigung bedingen, wurde versucht, die Höhe zu optimieren. Eine Schlüsseltechnik dazu bildet dabei das Kneeling. Diese erlaubt ein Absenken der Busse von ca. 6 cm in der Halteposition. Dadurch kann die Höhe des Bordsteins bis auf 22 cm reduziert werden. Die für die Ausführung von hindernisfreien Verkehrsanlagen wegweisende Norm VSS 640 075 „Fussgängerverkehr-Hindernisfreier Verkehrsraum“ definiert im normativen Anhang entsprechend Bus-Kantenhöhen von 22 bis 30 cm. Das Procap Arbeitsblatt A516, fasst die aktuellen Anforderungen an den Niveaugleichen Einstieg anschaulich zusammen.

3. Das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG)

Während die Entwicklung des niveaugleichen Einstiegs und die Bustechnik im Ausland vorangetrieben wurde, hat man in der Schweiz zugewartet. Mit dem Inkrafttreten des Behindertengleichstellungsgesetzes 2004 hat sich die Situation plötzlich verändert, eine Veränderung, deren Folgen von den Busbetreibern, Verkehrsplanern und Baubewilligungsbehörden lange Zeit nicht realisiert wurde. Das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) verlangt nämlich, dass auch Menschen mit Behinderung den öffentlichen Verkehr autonom benutzen können müssen. Die Gesetzgebung sieht dafür eine Anpassungspflicht bis Ende 2023 für Busbetreiber und Haltestellenbesitzer vor.

Massgebend für die Ausbildung von Bushaltestellen sind die beiden Verordnungen zum BehiG, die VböV [2] und die VAböV [3], Diese fordern grundsätzlich Niederflurbusse und den autonomen Zustieg für Rollstuhlfahrer. Zu beiden Verordnungen gibt es Erläuterungen des Bundesamtes für Verkehr (BAV) welche sehr aufschlussreich für das Verständnis sind. Diese Werke weisen für die bauliche Ausführungen im Detail auf die Normen SIA 500 „Hindernisfreie Bauten und auf die VSS 640 075 „Fussgängerverkehr-Hindernisfreier Verkehrsraum“ hin. Während das Bundesamt für Verkehr bei den Eisenbahnen die Entwicklung über Bewilligungen/Konzessionen direkt steuern kann, gestaltet sich die Umsetzung bei den Bussen weit schwieriger. Deren Umsetzung obliegt den Kantonen und deren Gemeinden mit den vielen jeweiligen Bauverwaltungen. Erschwerend kommt hinzu, dass es viel mehr Bus- als Eisenbahnbetreiber gibt.

Das Bundesamt für Verkehr reagierte nach Inkrafttreten des BehiG im Jahr 2004, indem es die Studie „Rollstuhlgerechter Buseinstieg“ in Auftrag gab. Die Publikation von 2006 bestätigt die Praxis mit Sonderborde und Schleppkurvenprüfungen. Von den Kantonen wurde das Engagement des Bundes lange als Einmischung in ihre Souveränität empfunden und so wurden – und werden zum Teil immer noch – (zu) niedrige Bushaltestellen gebaut und mit Bus-Klapprampen bedient, selbst wenn ein niveaugleicher Einstieg möglich wäre. Im Gerichtsurteil Bahnhof Walenstadt (A-7569/2007) von 2008 hat das Bundesgericht jedoch festgehalten, dass die Unabhängigkeit von Menschen mit Behinderung oberstes Ziel sei, welches im Wesentlichen durch den niveaugleichen Einstieg zu gewährleisten ist und Klapprampen nur subsidiär zum Einsatz gelangen dürfen, d.h., wenn es baulich nicht geht resp. unverhältnismässigen Aufwand erfordern würde. Die Frage, was als unverhältnismässig gelte, insbesondere bei Abwägung der verschiedenen Anforderungen und Interessen, blieb lange umstritten. Die Behörden und Planer neigten dazu, die anderen Belange bevorzugt zu behandeln, indem sie die Aufwände zur Gleichstellung regelmässig und gerne als unverhältnismässig abhandelten. Durch das Gerichtsurteil Lausanne (AC 2016.0321)von 2018 konnte auch dieser Sachverhalt geklärt werden. Das Gericht hält fest, dass bei konkurrenzierenden Anforderungen die Belange von Menschen mit Behinderung im ÖV vorrangig zu behandeln sind.

4. Umsetzung in der Praxis

Somit stellt sich die Frage, wie die einzelnen Akteure vorgehen sollen. Dazu können wir folgendes Vorgehen empfehlen:

Busbetreiber
Bei der Ausschreibung und Beschaffung von neuen Bussen ist unbedingt zu beachten, dass diese kompatibel zu den 22 cm hohen Sonderborde sind, nicht alle Fahrzeuge auf dem Markt sind gleich gut geeignet. Das Augenmerk ist dabei besonders auf das Türsystem, dem Kneelingsystem und bei Gelenkbussen auf den Faltenbalg zu legen.

Das Kneeling muss optimiert eingestellt und laufend gewartet werden. Dabei ist es technisch möglich, dass die Zustiegshöhe mit ± 3 cm Toleranz eingestellt werden kann (nach VaböV sind max. 5 cm zulässig, ist jedoch für einige Rollstuhlfahrer und viele Rollatorfahrer nicht mehr überwindbar[4])

Die Buschauffeure sind auf das Anfahren an die Sonderborde zu schulen, sie müssen wissen, wie die einzelnen Haltestellen anzufahren sind, damit die Spaltenbreite eingehalten werden kann.

Eine Prognose über die zukünftige Fahrgastentwicklung ist zu erstellen, mit welchen Massnahmen man den Herausforderungen begegnen will. Längere Busse bedingen längere Haltestellen und entsprechende bauliche Anpassungen, die technisch und ökonomisch geplant werden müssen.

Verkehrsplaner

Vor Planungsbeginn sind vor allem folgende Regelwerke zu konsultieren:

Um Erfahrungswerte zum niveaugleichen Einstieg zu sammeln oder auszutauschen empfehlen wir, die in der Sache führenden Tiefbauämter Stadt Basel, Basel-Landschaft, Luzern, Zürich oder Neuchâtel zu konsultieren.

Der häufigste konzeptionelle Fehler der gemacht wird ist, dass neue Haltestellen nicht an der geeignetsten Stelle im Perimeter gebaut werden oder bestehende sich nicht an geeigneter Stelle  befinden und verschoben werden sollten.

Haltestellenbesitzer

1. Alle neu gebauten Haltestellen sind standardmässig mit niveaugleichem Einstieg zu planen und auszuführen.

2a.  Im Hinblick auf die Anpassungsfrist bis Ende 2023 sind die bestehenden Bushaltestellen zu erheben. Dazu sind die Bedingungen vor Ort zu erfassen und zu überprüfen. Dabei sind die jeweiligen Massnahmen für einen bestmöglichen niveaugleichen Einstieg gemäss
VSS 640 075 in folgender Reihenfolge festzulegen:

  1. Niveaugleicher Einstieg auf ganzer Länge der Haltestelle
  2. Verschieben der Haltestelle an einer besser geeigneten Stelle
  3. Niveaugleicher Einstieg im Bereich für Menschen mit Behinderung, Rest 16 cm
  4. Wenn sich keine bessere Lösung finden lässt, als Rückfallebene ganze Haltestelle 16 cm

Haltestellen, die in zu sanierenden Strassenabschnitten liegen, sind zusammen mit den Sanierungsarbeiten instand zu stellen.

2b.  Haltestellen in Strassenabschnitten ohne zeitnahen Sanierungsbedarf sind für die Anpassungen nach folgenden Kriterien zu priorisieren .

  1. Fahrgastwechsel
  2. Umsteigebeziehungen
  3. Bedeutung der angrenzenden Nutzungen
  4. Umliegend geplante neue Nutzungen
  5. Kante bereits mindestens 12 cm

Die Haltestellen mit hoher Priorität sind für die Anpassungen vorzuziehen. Für die Instandstellung ist gemäss Ziff. 2a vorzugehen

Es gibt grundsätzlich keine Haltestellen, die nicht von allgemeiner Bedeutung sind und somit nicht vom BehiG erfasst werden. Die Verhältnismässigkeit bemisst sich lediglich in der Abstufung der Ausbildung nach Ziff. 2a oder in der Priorisierung nach Ziff. 2b während der Anpassungsfrist bis 2023. Verschiedene Planungstools die auf dem Markt angeboten werden, welche bei Haltestellen klassifizieren in solche mit Erfordernis Behindertengerechtigkeit oder nicht, müssen als nicht BehiG konform zurückgewiesen werden. Wir verweisen dazu auch auf das Positionspapier von Inclusion Handicap von Nov. 2016.

Bewilligungsbehörden

Die VböV und die VAböV sind mit den zugehörigen Erläuterungen des BAV und den Normen
SIA 500 und VSS 640 075 als integrierender Bestandteil der Baubewilligung zu verfügen. Neue zur Bewilligung eingereichte Haltestellen ohne niveaugleichen Einstieg auf ganzer Haltestellenlänge sind kritisch zu prüfen, ob ein Verschieben/Optimieren wirklich nicht möglich ist, resp. sind die Schleppkurvennachweise gemäss Ziffer 2.a III+IV verlangen und durch eine routinierte Fachperson überprüfen zu lassen. Die kantonalen Fachstellen hindernisfreies Bauen stehen dafür gerne zur Verfügung.

Es zeichnet sich bereits ab, dass wegen versäumten Jahren am Anfang die Zielerreichung bis Ende 2023 schwierig wird, darum ist die richtige Priorisierung gemäss Ziffer 2b wichtig. Unabhängig davon besteht ab 2024 das Klagerecht von Menschen mit Behinderung und Behindertenorganisationen, sowohl gegen falsch gebaute als auch gegen nicht angepasste Haltestellen.

5. Zusammenfassung

Der niveaugleiche oder autonome Einstieg ist seit Längerem Stand der Technik, die Erfahrungswerte sind vorhanden. Einige Kantone haben bereits grosse Routine und verfügen über entsprechende Richtlinien, so etwa der Kanton Luzern («Richtlinien Bushaltestellen, Technischer Kurzbericht» des vif Luzern von Dezember 2017), der Kanton Zürich («Richtlinie hindernisfreie Bushaltestellen, Empfehlungen zur Ausgestaltung» des Amtes für Verkehr des Kantons Zürich vom 30.04.2018), der Kanton Baselland («Projektierungsrichtlinien Bushaltestelle» T 972 vom 22.07.2016) oder der Kanton Neuenburg (Mise en conformité LHand des arrets de bus du canton de Neuchâtel vom November 2017). Somit gilt der niveaugleiche Einstieg mit Sonderbord im Allgemeinen und insbesondere auch bei den Gerichten als Standardlösung. Darum empfehlen wir unbedingt allen Kantonen, ihre Planungsrichtlinien dahingehend anzupassen.

Über die Hochflurbusse haben wir uns bisher nicht geäussert. Sie unterscheiden sich gegenüber Niederflur-Bussen grundsätzlich durch mehr Sitzplätze und dem Staubereich unter dem Fahrgastraum. Auf einzelnen Strecken kann der Einsatz gerechtfertigt sein, z.B. im Fernverkehr oder aufgrund geographischer Gegebenheiten. Hochflurbusse bedürfen jedoch einer Streckenzulassung durch das BAV und müssen mit Rollstuhl-Hubliften aufgerüstet sein. Die Hublifte sind jedoch für stehende Personen nicht geeignet, z.B. für alte Menschen mit Stöcken oder Rollatoren und Personen mit Kinderwagen oder Gepäck. Für die Benutzbarkeit der Hublifte müssen die Haltestellen auch zusätzlich verbreitert werden (s. VSS 640 075, Anhang 15.2). Darum können in solchen Fällen sogenannte „Low-Entry Busse“eine Alternative sein, welche eine Kombination von Hoch- und Niederflurbussen darstellen d.h. der vordere Bereich als Niederflurbus und das Heck als Hochflurabteil (siehe z.B. der Low-Entry der Firma Hess).

Wichtig ist, dass der Zweck und die Bedeutung der Massnahmen, welche das BehiG auferlegt, verstanden werden. Unter dem Begriff „Behinderte“ fallen gemäss BehiG-Definition auch Personen, die altersbedingt eine voraussichtlich dauernde motorische oder sensorische Einschränkung haben. Nutzniesser des BehiG sind somit letztendlich alle ÖV-Benützer: Niveaugleiche Einstiege beschleunigen den Fahrgastfluss und dienen auch Reisenden mit schwerem Gepäck und Kinderwagen. Somit liegt die Bedeutung des niveaugleichen Einstieges weit über den Belangen der Gleichstellung.

Die zukünftige Entwicklung der Fahrzeuge wird weitere Optimierungen bringen. So gibt es bereits erste Fahrzeuge, die das Kneeling auf die Höhe der hohen Kante optimiert ausrichten können. Es wird auch geforscht an Systemen zur Einfahrthilfe, dadurch wird es möglich werden bei bestehenden Haltestellen besser und mit grösseren Fahrzeugen anzufahren. Somit ist aus all den erwähnten Gründen die 22 cm hohe Kante bei Bussen eine nachhaltige Investition in die zukünftige ÖV-Technik, die 16er Kante gilt als technisch überholt.

Bei Fragen verweisen wir auf die Kantonalen Fachstellen Hindernisfreies Bauen, welche gerne Auskünfte erteilen.

 

Weitere Dokumentationen zu hindernisfreier  ÖV Technik finden Sie unter:

https://www.inclusion-handicap.ch/de/oev-technik-105.html

https://www.procap.ch/de/angebote/beratung-information/bauen-und-verkehr.html

http://hindernisfreie-architektur.ch/normen-publikationen/

https://www.stadt-zuerich.ch/ted/de/index/taz/fachunterlagen/hindernisfreies_bauen

6. Quellen

[1] Die erste Ausführung eines solchen Kombibords in der Schweiz befindet sich bei der Haltestelle Hardbrücke in Zürich

[2] SR 151.34 „Verordnung über die behindertengerechte Gestaltung des öffentlichen Verkehrs“

[3] SR.342 „Verordnung des UVEK über die technische Anforderung an die behindertengerechte Gestaltung des öffentlichen Verkehrs“

[4] Die 5 cm für den niveaugleichen Einstieg stammen aus der TSI-PRM, d.h. aus dem Zugverkehr. Aus Gründen der Einheit der Materie gilt für alle ÖV-Bereiche für den niveaugleichen und somit autonom zu bewältigenden Ein-/Ausstieg eine maximale Spaltbreite von 75 mm und eine maximale Niveaudifferenz von 50 mm.

Autor
Remo Petri
Leiter Ressort Bauen Wohnen Verkehr
Procap Schweiz
Datum : 05.10.2018